Zugausfall

Entschuldigen Sie bitte, können Sie noch einmal wiederholen, was Sie sagten? Ich war gerade in Gedanken. Ach ja, das ist überhaupt kein Problem. Nehmen Sie ruhig Platz. Sie wollen auch Richtung Hamburg, oder? Da lassen Sie uns gerne gemeinsam warten. Draußen geht ohnehin die Welt im Sturm und Platzregen unter. Ansonsten säße ich nicht hier. Ich empfinde Bars als ein geldraubendes, miefendes Alltagsklischee für Leute, die ihren Süchten nachgehen wollen, aber keinen Sinn für Kalkulation haben. Aber aus Ermangelung an Alternativen und in Anbetracht des Weltunterganges vor der Tür muss heute eine Bar herhalten.

Natürlich bin ich angefressen, dass der Zug ausfällt. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Es kann zu Verspätungen oder Ausfällen kommen. Das liegt in der Natur des Bahnbetriebes. Mich erregen nur die Ursachen. Infrastrukturprobleme, technische Schwierigkeiten oder Personalmangel sind es täglich. Etwas derartig Wichtiges wie die Bahn wird seit Jahrzehnten systematisch heruntergewirtschaftet, obwohl der ganze Komplex Investitionen, Arbeitsplätze und Umsätze bringen könnte, sodass wir alle etwas davon hätten. Stattdessen steigen jährlich die Kosten für sogenannten „Service“, der nur in Werbebotschaften existiert. Ich beruhige mich schon wieder, keine Sorge.

Jedenfalls ist der Wirt dieser Absteige heute wohl sehr dankbar ob des Regens und der Zugausfalls. Die Bude ist voll und jetzt wird richtig Reibach gemacht. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich zu viel spreche, aber Sie wirken wie jemand, der heute lieber viel zuhören will, als selbst ein Gespräch zu beginnen. Nein, das war nicht schwer zu erraten. Als Sie mich ansprachen, sagte ihr Blick alles. Aber meine Erregung aufgrund des Zugausfalls hätte ich wohl erst einmal jeden mitgeteilt. Das ist egoistisch, ich weiß. Manchmal kann ich aber nicht anders. Sie scheinen jedoch ebenso alles andere zufrieden mit dem Zugausfall zu sein, nicht wahr? Ach so, darum geht es Ihnen gar nicht. Ich frage nicht weiter. Sie haben Ihren Grund, ich habe meinen Grund, missmutig zu sein. Vielleicht schaffen wir es, den jeweiligen Grund hier zu vergessen, während wir warten. Haben Sie die Durchsage gehört? 80 Minuten Verspätung auch in die andere Richtung. Das ist Witz!

Nein, ich habe noch nicht bestellt. Hinter Ihnen ist eine Kellnerin, nur zu. Ich weiß gar nicht, ob ich hier etwas ordern möchte. Es ist doch lächerlich. Ein Apfelsaft kostet 3 Euro. Dafür bekomme ich in einer unserer Einkaufshöllen zwei Packungen mit eineinhalb Litern. Gut, dort erhalte ich keinen weiteren Service und kann nicht bei Bedarf eine Toilette nutzen. Mag sein. Ich will aber nur Apfelsaft für mein Geld, mehr nicht. Sie wollen mich einladen? Das ist sehr großzügig und ich schätze, Sie akzeptieren kein „Nein, danke“. Dann nehme ich wohl einen Apfelsaft. Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Sie nicht mit meiner Bestellung kränken. Was wäre dann etwas „Richtiges“? Ein Herrengedeck? Sie meinen Bier und einen Kurzen? In Ordnung, ich leiste keinen Widerspruch, für mich also auch ein Herrengedeck, bitte.

Ich nehme an, Sie hatten nicht den einfachsten Tag. Darf ich fragen, wieso Sie nach Hamburg wollen? Das stimmt, die Arbeit treibt uns in alle Himmelsrichtungen, obwohl wir viel lieber an einem für uns schönen Ort verweilen wollen. Ist es denn gut, alkoholisiert zur Arbeit zu erscheinen? Ich verstehe. Wenn der Termin erst morgen ist, geht das in Ordnung. Ich? Ich bin auf der Durchfahrt. In Hamburg muss ich umsteigen und dann geht es noch einige Stunden nach Niebüll. Dort habe ich einen Termin wahrzunehmen – ebenso morgen. Daher ist das Herrengedeck auch für mich in Ordnung. Sehen Sie, da kommt es bereits. Danke, vielen Dank. Prost! Korn. Aber was muss, das muss, nicht wahr?

Schauen Sie einmal, dort auf dem Gleis, ähm Gleis 8, oder? Egal. Dort, nein, ein bisschen weiter links meine ich, ja, genau. Das ist eine Siemens-Lok. Sie trägt den Spitznamen „Taurus“. Wenn sie aus dem Stillstand anfährt, hört man für ungefähr 15 Sekunden eine Dur-Tonleiter. Das ist herrlich, aber auch das gleichbleibende Motorengeräusch bei höheren Geschwindigkeiten in Kombination mit dem Rauschen der Waggons auf den Gleisen. Nein, ich kenne mich gar nicht so sehr aus. Ich weiß, wo man die Baureihe an einer Lok abliest und kenne ab und zu die Lok-Modell-Namen. Mehr aber nicht. Von Leistungen, Höchstgeschwindigkeiten, Einsatzgebieten, Alter und der dergleichen habe ich überhaupt keine Ahnung. Ich erlaube mir nur ein solches Maß an Kenntnis, das mir meine Bahnreisen versüßt. Einfach weil es mir das wert ist, wissen Sie. Wie fanden Sie den Korn? Das war kein Guter, oder? Ja, ganz recht, das Bier muss jetzt helfen.

Es ist merkwürdig, nicht wahr? Wir tranken diesen Fusel, und hatten ihn beileibe nicht das erste Mal getrunken, schüttelten uns, weil er so gar nicht schmeckte, und niemals geschmeckt hatte, aber würden es in einer ähnlichen und vielen anderen Situationen wieder tun. Den billigen Rachenputzer zu trinken, hat irgendeine Bedeutung für uns. Wir schätzen es, ihn hinunterzuspielen, das Kratzen in der Kehle zu spüren und uns an einem Moment entstehender Wärme im Bauchinneren zu erfreuen, ehe sich im Mund ein widerlicher Geschmack breitmacht. Sicher, der Geschmack kann zweitrangig sein, solange das Kratzen und die Wärme ein bisschen Ablenkung verschaffen. Ich stimme Ihnen zu. Ablenkung kann manchmal alles sein, was wir benötigen. Ein kurzer Gedanke hier und da, ein anderes Gefühl, eine andere Emotion als sonst und schon sind wir bereit, es wieder mit der Routine aufzunehmen. Genau, genau. Wenn einmal die Ablenkung zur Routine wird, wird es problematisch. Die Ablenkung muss etwas Besonderes bleiben. Wir haben Sie neu zu erfinden, wann immer wir Gelegenheit dazu haben. Ansonsten wirkt sie nicht, wie sie wirken soll und wird zur reinen Zeitverschwendung.

Diese leichte und abartige Taubheit auf meiner Zunge erinnert mich wieder, was ich eigentlich sagen wollte. Was mich selbst bei so einem Schluck Fusel verwundert, ist, wie viel Bewertung in allem steckt. Wissen Sie, was ich meine? Ich versuche es zu erklären. Schauen Sie nur. In einer Fabrik wird der Klare hergestellt und in eine Flasche gefüllt. Irgendwann landet die Flasche hinter einem Tresen, wird geöffnet, dann geneigt, damit schließlich ein Glas befüllt werden kann. Dann steht das Glas vor uns. Wir wissen, was wir nun zu tun haben und wissen, warum wir das zu tun haben. Aber warum eigentlich? In keinem Moment von der Herstellung des Fusels bis zu dem Moment, an dem er auf unserem Tisch erscheint, hat irgendjemand dem Getränk einen Wert, so etwas wie ein Gutsein, beigemischt. Der Klare ist weder gut noch schlecht. Er ist einfach; erst in einem Tank, dann in einer Flasche, später in einem Glas und schließlich in unserem Magen. Wir trinken das Zeug nicht, weil es ein Gutsein in sich hat. Wir trinken es, weil wir es für gut befinden, es zu trinken. Das heißt auch, dass wir den Korn nicht tränken, wenn wir es nicht für gut befänden, ihn zu trinken. Natürlich, natürlich, da gibt es viele Ausnahmen, die wir uns jetzt vorstellen können. Sie haben ein gutes Gespür für die Komplexität der ganzen Sache. Ich bin beeindruckt. Lassen Sie uns aber bei etwas Einfacherem verbleiben, wenn es für Sie in Ordnung ist.

Wir haben morgen unseren jeweiligen Termin. Nicht nur wir. So gut wie jeder hat einen. Irgendwer muss zu einer bestimmten Zeit irgendwohin, um dort irgendetwas zu erledigen. Allein der Umstand, dass wir Termine haben, ist bereits eine Wertung. Wir gehen einer Sache, beispielsweise einem Job, nach, weil wir dem einen Wert beimessen. Sie fahren nicht grundlos nach Hamburg und gehen dort nicht grundlos einer Besorgung oder Aufgabe nach. Aufgrund eines Wertes, dem Sie Ihrem Job oder damit Einhergehendem zusprechen, werden Sie tun, was Sie zu tun haben. Warum schütteln Sie den Kopf? Haben Sie etwa keine Veranlassung nach Hamburg zu reisen? Sprachen Sie nicht von Arbeit? Ja, dann ist es doch klar. Jetzt verstehe ich. Sie erledigen alles widerwillig. Nicht einmal das? Dann gibt es keinen anderen Grund, nach Hamburg zu reisen, als dass Sie die Gewohnheit lieben. Selbst das nicht? Dann befreien Sie mich bitte aus meiner Rolle des Fragenstellenden und sagen Sie mir, wieso Sie die Reise auf sich nehmen. Weil Sie müssen – das ist zugegeben kein schöner Grund, aber es ist immerhin ein Grund. Hinter dem Müssen verbirgt sich eine Wertung. Sie schreiben dem Müssen und damit Verbundenem einen Wert zu. Also tun Sie, was Sie tun müssen. Ja, das Bier muss tatsächlich weg. Gehen wir dem erst einmal nach.

Aber ganz unter uns gesagt. Sie müssen gar nichts. Wenn Ihr Job nicht mit irgendeiner finanziellen, vertraglichen oder lebensgestalterischen Notwendigkeit einhergeht, müssen Sie gar nichts. Und selbst wenn solcherlei Bedingungen erfüllt wären, gäbe es stets Spielraum. Nichts ist alternativlos, obgleich politische Rhetoriken uns so etwas einreden wollen. Schließlich können Sie, und freilich nicht nur Sie, sondern wir alle, jederzeit werten, wie Sie wollen und darauf aufbauend machen, was Sie wollen. Selbst im höchsten Zwang ist man noch frei, sich seine Wertungen selbst auszusuchen, womit es im Grunde Zwang im ganz engen Sinne gar nicht gibt. Und bitte, zur Handlung gehört ein bisschen mehr als nur das bloße mechanische Ausführen oder Gehindertwerden von oder an irgendetwas. Verzeihen Sie bitte, wenn Ihnen das zu einfach vorkommt, aber denken Sie einen Moment darüber näher nach. Hinter jedem Müssen, Sollen, Können, Dürfen, Wollen und so weiter steckt eine Wertung. Wenn wir aber imstande sind, etwas zu ändern, dann sind es unsere Wertungen, wenngleich das in vielen Situationen alles andere als einfach ist. Aber es ist leichter, Wertungen und dann sein Denken und Handeln als das Denken und Handeln zu ändern, wenn die Wertungen ein und dieselben bleiben. Darauf ein zweites Herrengedeck? Mir soll es recht sein!

Prost! Wir können den von mir entwickelten Gedanken, dass alles Wertungen entspringt, weiter ausbauen. Sehen Sie sich unser heutiges Leben an. Alles ist Wertung. Wen oder was wir wählen, beruht auf Wertungen. Unser gesamtes virtuelles Leben in Foren und auf Plattformen gründet sich auf Wertungen. Wir zeigen, was uns gefällt und bewerten damit eine Sache. Jeder soll zudem sehen, was wir und wie wir bewertet haben. Darin gefallen wir uns nämlich, dass wir gute Werter sind mit erlesenem Geschmack, mit richtiger Moral, mit der besten Intuition und dem schärfsten Verstand. Wie wir die Dinge und Menschen bewerten, so wollen auch wir bewertet werden, denn wir leben unser heutiges Leben nach der Maxime, dass alles bewertet werden muss. Ohne irgendeine Bewertung hat nichts Bedeutung, ist belanglos, ist unbrauchbar. Sie sehen schon, da war ein Muss in meinem vorherigen Satz. Sie wissen bereits, was es mit dem Müssen auf sich hat. Aber lassen Sie mich bitte meinen Gedanken weiterführen. Nicht nur mittlerweile, eigentlich seit Menschengedenken, führen wir Kämpfe darüber, was die beste Wertung ist oder zumindest diejenige ist, die einen Daseinsanspruch hat. Wir sagen, diese Partei ist schlecht, jene dagegen gut. Es soll in diese, nicht in jene Richtung gehen. Wir akzeptieren eine Person, eine Denkweise, eine Handlung, eine andere aber nicht. Diese Sache ist richtig, eine andere ist falsch. Ja, selbst in Bezug auf Dinge wie Wahrheit und Falschheit haben wir uns längst dafür entschieden, nur noch Wertungen nachzugehen, denn diese sind wichtiger als das, was tatsächlich ist oder nicht. Dann werten andere aber plötzlich gegenteilig. Es kommt zum Konflikt der Wertungen. Ein Kampf beginnt. Heute ist es nicht nur ein Kampf, es ist vielmehr ein allgegenwärtiger Krieg. Wer gegen wen auf das Schlachtfeld zieht, wissen die allermeisten schon gar nicht mehr. Sobald aber wer auch immer nicht so wertet wie man selbst, gilt es, die fremden Wertungen zu vernichten.

Sie kennen Nietzsche und seinen Ausspruch, dass der Mensch ein schätzendes Tier ist? Jetzt erstaunen Sie mich schon wieder. Sie promovierten sogar in Philosophie? Das heißt, dass Sie nach Hamburg fahren, um dort an der Universität etwas zu erledigen, nicht wahr? Das ist schade, dass Sie nicht in der Philosophie blieben. Ich wusste nicht, dass Stellen befristet sind. Und ich kann Ihren Unmut sehr gut nachvollziehen, wenn alles Akademische im Grunde auf Vetternwirtschaft basiert. Jetzt haben Sie also einen Bürojob. Sie mögen ihn nicht, oder? Jetzt begreife ich erst, was es mit Ihrem Müssen auf sich hat. Dennoch bleibe ich davon überzeugt, dass Sie gar nichts müssen, weder heute noch morgen. Sie sind frei in Ihrem Werten, Denken und Handeln. Schauen Sie nicht so. Hier, wir haben noch Bier im Glas. Also hoch die Gläser!

Das Ansinnen, Wertungen mit anderen Wertungen vernichten zu wollen, ist freilich absoluter Unfug. Wertungen ändern sich nur mit Argumenten. Die Argumente werden aber dann nur wirksam, wenn man aus der Wertung selbst hinaustritt und sich selbst beschaut, um herausfinden, warum man so wertet, wie man wertet. Dann erkennt man, was man selbst alles zum Werten benötigt und man kann sogar darüber diskutieren, welche Aspekte sinnvollen Einfluss auf eine Wertung haben sollten oder nicht. Entschuldigen Sie, ich werde gerade sehr abstrakt. Klar können Sie damit etwas anfangen, aber ich laufe gerade Gefahr, meinen eigenen roten Faden zu verlieren. Lassen Sie mich also ein paar Beispiele geben. Als Nero Kaiser wurde, war er ein Kind ohne Können und ohne Erfahrung. Dennoch leisteten ihm seine Prätorianer den Eid. Sie schützten ihn mit ihrem Leben. Warum aber? Nero war bloß eine schmächtige Person. Jeder einzelne Soldat seiner Leibwache hätte ihn mir nichts dir nichts niederschlagen können. Niemand tat es jedoch, weil die Leibgarde die Kaiserposition, die claudisch-julische Blutlinie, die Staatform, die Götter, ja was weiß ich alles als wertvoll erachtete. So blieb Nero, zumindest vorerst, am Leben und wurde zum Kaiser erzogen. Jetzt können wir so viele Beispiele aus der Geschichte bemühen und uns fragen, warum es wiederholt eine einzelne Figur, die für sich betrachtet kaum mehr als alle anderen Menschen leistete, zum Herrscher oder Diktator wurde. Sie ahnen die Antwort: Wertungen, freilich ganz verschiedene, wenn man sie im Detail betrachten würde, aber alles gründete sich auf Wertungen. Und wenn viele ähnlich werten, dann hat man schnell den Schlamassel eines Unrechtsstaates. Das bedeutet aber auch, dass sich nichts ändert, wenn die Mächtigen, die Inthronisierten, die Herbeigewählten abtreten, abgewählt oder gewaltsam aus ihrer Position entfernt werden. Wer an der Spitze ist, ist nur ein Symptom, nur die Folge von Wertungen. Wer das Symptom ausmerzt, verzeihen Sie diesen Wortwitz mit Blick auf unsere neue Regierung, hat immer noch dieselbe Ursache vor sich. Aber erkennen Sie darin nun den Dreh- und Angelpunkt von allem? Wer eine wirklich andere Welt will, kommt nicht umhin, erst einmal anders zu werten. Wenn dieser Schritt aber einmal getan ist und von vielen wiederholt wird, kann es so etwas wie einen Wandel geben. Ob zum Besseren oder Schlechteren bleibt offen, denn das ist schließlich auch nur eine Wertung. Sehen Sie nur, der Regen hat aufgehört. Tatsächlich, da kommt plötzlich die Sonne zum Vorschein. Ich mag es, wie die Gleise mit letztem Regenwasser bedeckt funkeln. Lassen mir nur das bisschen Eisenbahnromantik. Ansonsten hält man diese Welt doch gar nicht mehr aus.

Wir ärgern uns über soziale Medien, nutzen sie aber selbst für uns oder unsere Unternehmen, die wir leiten oder für die wir arbeiten. Wenn wir sie abschaffen wollen, ist es nur nötig, dass mehrheitlich anders gewertet wird. Wir sind unzufrieden mit dieser und jener Person, mit dieser und jener Regelung und so weiter. Nichts ändert sich jedoch, weil die Wertungen im Grunde ein und dieselben bleiben. Dabei kann alles geändert werden. Nichts auf dieser Welt, das entsteht, besteht oder vergeht, hat einen Wert an sich. Nein, wir geben den Dingen Wert oder entziehen ihnen Wert. Wir sprechen von der Würde des Menschen als etwas Hohes und widmen ihr den ersten Paragrafen unseres Grundgesetzes. Davon einmal abgesehen, dass kaum einer genau anzugeben vermag, worin diese Würde besteht oder was das überhaupt ist, ist sie am Ende nur eine Wertung, die wir Menschen zukommen lassen und die wir mehrheitlich akzeptieren. Kein Geld der Welt hat einen Wert an sich, kein Besitz, kein Eigentum, keine Freundschaft, keine Beziehung, keine Ehe, nichts hat einen Wert an sich, selbst die Würde nicht. Aber gleich zu werten, lässt solche Dinge und deren Bedeutung erst entstehen. Ohne Wertung gäbe es keine Gesellschaft, ohne Wertungen gäbe es aber auch keine alltäglichen Kriege in analoger oder digitaler Form. Wertungen sind mehr als ambivalent – und darum eben niemals feststehend, obwohl es den Anschein hat. Es liegt bei uns, wie wir werten. Und es liegt bei uns, das direkte Werten hin und wieder zu beenden und die Zeit zu nutzen, um sich zu fragen, ob es noch mehr gibt, als nur das Werten, vielleicht so etwas wie Tatsächlichkeiten, die frei von jeder Wertung sind, und vielleicht so etwas wie einen Blick auf das Werten, der uns dabei helfen kann, neu zu bewerten und uns selbst zu hinterfragen, bevor wir beginnen, fremde Wertungen niederzuringen.

Ob alle, was ich sagte, nun wiederum bloßen Wertungen entspricht, vermag sich selbst gar nicht einzuschätzen. Ich hoffe, ich konnte Ihnen aber ein wenig klarmachen, worüber ich mir Gedanken mache, wenn ich auf einen Zug warte. Hören Sie es, der nächste Zug fährt gleich ein. Wir können also endlich nach Hamburg aufbrechen. Vielleicht können wir uns im Zug noch weiter unterhalten, denn ich habe einige Fragen an Sie, da Sie sich so intensiv mit Philosophie beschäftigt haben. Sie kommen gar nicht mit? Sie fahren nach Hause? Ich dachte, Sie haben morgen einen Termin wahrzunehmen? Sie mögen es, mich zu überraschen, oder? Dann wünsche ich Ihnen eine gute Heimreise und eine angenehme Zugfahrt. Vor allem danke ich Ihnen aber für unser Gespräch und die Herrengedecke. Vielleicht sehen wir uns eines Tages noch einmal wieder, an einem Bahnsteig oder in einer Bar, wenn es regnet und stürmt. Machen Sie es gut!

René Kanzler

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