Hoffnung

Ein Gesichtsloser richtet eine Pistole auf mich. Er betätigt den Abzug. Ein kupfernes Neun-Millimeter-Projektil schnellt zu mir und bohrt sich nahezu widerstandslos durch Haut und Knochen in meine Stirn. Ich erstarre. Für einen Wimpernschlag spüre ich einen grenzenlosen, aber mir längst vertrauen Schmerz und falle zu Boden. Blut fließt über meine Haut und sammelt sich zu einer Lache neben meinem Kopf. Bevor sich mein letzter Herzschlag im Nichts verliert, wache ich ruckartig auf.

Mein Shirt ist schweißgetränkt. Ich zittere und ringe nach Luft. Instinktiv betaste ich meine Stirn: kein Loch, kein Blut, kein Schmerz. Ich lebe noch, oder? Träume wie diese häuften sich in den letzten Monaten. Ich weiß nicht, wieso. Gespräche mit Freunden oder Experten brachten mir weder sinnvolle Erkenntnisse noch helfende Ratschläge. Mittlerweile habe ich diese Träume fast jede Nacht; manchmal kürzer und vage, manchmal länger und so detailliert, dass ich glaube, mich in meinem realen Leben zu befinden. Die Unwissenheit über ihr Auftreten und über ihre Bedeutung drückt tagsüber auf meine Brust und lässt mich nur schwer atmen.

In jedem Traum renne ich nachts durch die Nonnengasse, die Ritterstraße, den Röhrweg, die Eilenburger Straße, über den Rosa-Luxemburg-Platz, den Platz der Freundschaft, durch die Wälder entlang des Großen Teiches, durch den Schlosshof, über den Marktplatz, bis ich irgendwann aus dem Schlaf aufschrecke, weil mir die Flucht wieder einmal nicht gelang und ich mein Scheitern mit meinem Leben bezahlen musste. Immer verfolgt mich eine Gruppe Gesichtsloser in schwarzen Jacken, Hosen und Schuhen, die sich mit der Nachtdunkelheit vermischt und sich mir allein dann offenbart, wenn im Traum eine Straßenlaterne auftaucht. Meist ist es in diesem Augenblick bereits um mich geschehen.

Erschöpft öffne ich ein Fenster in meinem Schlafzimmer. Eine Silbermondsichel glänzt neben den zwei Türmen der Nikolaikirche. Das reine Licht überstrahlt alle umliegenden Sterne und lässt die Dachziegel des Rathauses kleine Nachtschatten werfen. Ein leiser Wind kühlt mein Gesicht. Einsam und verlassen wirkt Torgaus Innenstadt. Ich hatte mehr Tumult erwartet, denn gestern Abend war wieder eine Demonstration. Aber weder höre ich illegale Böller detonieren, die sonst die Stadt wie einen Kriegsschauplatz wirken lassen, noch die üblichen stark Alkoholisierten, die von „ihrem“ Deutschland grölen, wirres Zeug brüllen, Bierflaschen werfen, Scheiben oder Türen einzuschlagen versuchen und andere für ihre Lebensumstände zur Rechenschaft ziehen. Ja, einsam und verlassen wirkt Torgaus Innenstadt heute, aber friedlich.

Von weitem rauscht ein Güterzug heran. Ich lausche, habe Kindheitserinnerungen an das Leben neben dem Bahnhof, durch den V233-Loks mit bis zu dreißig Waggons über die Gleise schrammten, beruhige mich, sinke in mein ebenfalls nasses Kopfkissen zurück und stelle mir vor, wie es wohl wäre, einfach auf einen Zug aufzuspringen, sich ganz dem Zufall zu überlassen, heimlich durch die Nacht unter einem flimmernden Sternenhimmel zu reisen, die Lichter von Städten und Dörfern vorbeiziehen zu sehen, mit dem Beginn der Morgendämmerung, irgendwo auf einem Rangiergleis stoppend, schließlich abzuspringen und dann allerlei Unvorhergesehenes zu erleben, unbekannte Menschen zu treffen, etwas über ihr Leben und ihre Sichtweisen zu erfahren, von ihnen zu lernen und persönlich zu reifen, vielleicht mit dem Beginn der darauffolgenden Nacht einen weiteren Güterzug zu wählen und so Deutschland oder vielleicht ganz Europa etappenweise auf unvergessliche Art zu erkunden und zu erleben. Wie wäre es wohl, sich derartig lebendig zu fühlen, die ganze Welt mit offenen Armen zu empfangen und sich vielmehr an dem zu erfreuen, was Menschen trotz unendlicher Vielfalt miteinander verbindet, als an dem, was sie trennen und entzweien soll?

Das Rauschen des Güterzuges wird allmählich lauter. Er dürfte gleich den zum Glück modernisierten Torgauer Bahnhof erreichen, an dem er möglicherweise für einen Moment halten muss, ehe ihm das Ausfahrtsignal freie Fahrt gewährt. Ich könnte mich im Schutze der Nacht auf einen Waggon stellen und Torgau verlassen – nicht für ewig, nur so lange, bis ich wieder frei atmen kann und bessere Träume habe.

Ach, Schluss mit diesen Überlegungen! Was nützen alle Fantasien und alle Fragen? Ich muss endlich etwas tun! Das ist immerhin unser aller Problem, nicht nur, aber besonders in Torgau: Wir reden zu viel und gefallen uns darin, obwohl wir zu wenig miteinander, aber zu oft übereinander oder bloß reden, ohne etwas zu sagen – und erst recht, ohne etwas am Ende zu tun. Jetzt ist der beste Zeitpunkt, wenigstens für mich etwas zu ändern. Ich springe vom Bett auf, reiße meinen Rucksack an mich, befülle ihn mit nötigsten Kleidungsstücken, den üblichen Hygieneartikeln, der Geldbörse und vor allem mit einem noch völlig ungenutzten Notizbuch sowie meiner Kamera, zwei Objektiven, Speicherkarten und allen Akkus, die ich griffbereit habe. Eine Flasche mit Wasser ist rasch abgefüllt und eine Kleinigkeit für den Magen sicher verstaut. Die Reise kann und soll losgehen!

Entlang der schwachen Lichter der Breiten Straße eile ich zur Wittenberger Straße. Währenddessen trete ich in den Rest eines Döners, den augenscheinlich jemand nicht in seinen Händen halten konnte, obwohl alle täglich jammern, dass alles ständig teurer wird und man sich nichts mehr leisten kann. Der Duft von Rotkohl, Fleisch, Zwiebeln und Knoblauchsoße mischt sich mit dem Gestank von Unrat, Hundekot und noch frisch zerbrochenen Fuselflaschen, den die Stadt allzu gerne verströmt. Alles würde mir sofort den Magen umdrehen, hätte ich nicht ein Ziel vor Augen. An den Straßenschildmasten erblicke ich überall Aufkleber in schwarz-weiß-roter, manchmal braun-weiß-roter Farbe nebst einer Sachsenflagge. An vielen Häuserfassaden befinden sich Hakenkreuze; nur die wenigsten sind übersprayt oder zumindest durchgestrichen worden. Die Wittenberger Straße und den Friedrichsplatz endlich hinter mich lassend haste ich durch die Bahnhofstraße und fühle überdeutlich die nächtliche Ruhe der Stadt. Nirgendwo ist jemand anzutreffen. Kein einziges Auto fährt an mir vorbei. Die Fenster der Wohnhäuser sind geöffnet, aber kein Laut dringt aus ihnen.

Wieder höre ich den Güterzug. Die gelösten Bremsen quietschen kurz, die Traxx-E-Lok beschleunigt und verschwindet mit unzähligen Waggons im Dunkeln Richtung Leipzig. Als ich den Bahnsteig erreiche, erlange ich die traurige Gewissheit: Ich komme zu spät, viel zu spät. Der Bahnhof ist leer, leer wie mein Blick.

Am Bahnsteig wiederholt die elektronische Anzeige für den Personenverkehr Unleserliches. Ich bin allein und lasse mich auf einer Sitzgelegenheit nieder. Links und rechts ist ebenso alles voller Aufkleber und eineindeutigen Schmierereien. Vor mir spannen sich die Oberleitungen in Richtung Leipzig und Cottbus auf. Ohne Zug kann ich keine der beiden Städte erreichen. Ich seufze. Zurück in die Stadt will ich nicht. Ich will sie nicht sehen, nicht hören, nicht riechen. Vielleicht wird ein weiterer Zug kommen, wenn ich nur ein Weilchen ausharre. Mit gepressten Lippen bleibe ich sitzen und hoffe. Mehr kann ich nicht tun.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist oder wie viel noch vergehen muss. Den Tränen nahe und mit kraftloser Faust schaue ich auf ein fernes Blocksignal. Es ist und bleibt rot. Ich hatte meine Chance, habe sie aber vertan, weil ich nicht eher gehandelt, sondern mich in Vorstellungen und Überlegungen verloren habe. Innerlich bekräftige ich unzählige Male meine Überzeugung, ich hätte genau dieses starre, rote, keinen Widerspruch duldende und mich sekündlich belehrende Signalleuchten hier und jetzt verdient.

Ich zucke zusammen. Von irgendwoher nähern sich auf einmal Schritte und Stimmen. Niemand ist zu erkennen. Aber hier ist jemand. Das ist sicher. Mein Blick wird schwammig. Meine Hände sind eiskalt, die Lippen und der Hals trocken. Ununterbrochen rast mein Herz. Ich springe auf und suche Schutz am Ende des mittleren Bahnsteiges. Das war natürlich zu kurz gedacht, denn ich lief geradewegs in eine Falle, denn wenn sie jetzt kämen – plötzlich sehe ich sie, zwei, drei Gesichtslose in schwarzen Jacken, Hosen und Schuhen, die mich erspäht haben und langsam, aber entschlossen auf mich zukommen. Sie stoppen jedoch zu meiner Verwunderung einige Meter vor mir. Sie sprechen miteinander. Sie beraten sich. Sie bereiten sich auf etwas vor. Währenddessen hat sich das rote Blocksignal in ein grünes gewandelt, ein weiterer Güterzug rauscht herbei, dessen Kesselwaggons ich erst wahrnehme, als sie unmittelbar neben mir vorbeigleiten. Auch das Ausfahrtssignal schaltet auf Grün! Jetzt oder nie! Ich springe auf den Kesselzug auf und greife nach einer Haltestange. Über mir tanzt die Oberleitung erst gemächlich, dann rascher hin und her. Ich rieche die Gleise und sauge den Geruch der Freiheit in mich auf, während die Lok zusehends beschleunigt und mir auf diese Weise ein Lied von einer großen Reise, die ich nie vergessen werde, zu singen scheint. Die Gesichtslosen sind mir egal, denn ich habe es auf den Zug geschafft. Mich durchdringt eine Freude, als hätte ich mir einen Kindheitswunsch erfüllt. Wohin wird er mich wohl bringen? Was werde ich erleben? Und wie wird es wohl sein, zwischen Kesselwaggons zu stehen, während ich mit dem Zug durch die Nacht fahre? Ich bin voller Neugier, voller Lebendigkeit und atme seit langem wieder tief durch.

Die Warschauer Brücke ist nicht mehr weit, gleich ist der Bahnhof verlassen. Nur kurz blicke ich zurück und erspähe zugleich eine ruckartige Bewegung eines Gesichtslosen, der am Ende des Bahnsteiges steht. Er zückt eine Pistole, richtet sie auf mich und drückt ab. Das kupferne Neun-Millimeter-Projektil prallt funkenschlagend am Metall eines Kesselwaggons ab. Ich erstarre vor Schreck. Der Zug trägt mich in die Finsternis. Ihr Schwarz hüllt sich um mich, drückt auf mich ein und raubt mir den Atem.

Ich wache auf. Mein Shirt ist schweißgetränkt. Ich zittere und ringe nach Luft.  Es ist morgens. Ich liege in meinem Bett. Ein Fenster ist angekippt. Draußen erwacht die Stadt. Autos hupen an der Ecke der Scheffelstraße zur Breiten Straße, weil jemand, wie so oft, die Vorfahrtsregeln nicht beachten konnte. Menschen schreien sich auf dem Weg zum Markt an, während die Bluetooth-Box halbstarker Gymnasiasten dröhnt. Chihuahuas kläffen ihre Lungen aus dem Leib und irgendwer schwadroniert über seinen Verein in Torgau, der angeblich so viel zu bieten habe und den man doch unbedingt einmal besuchen solle. Mir wird speiübel.

In einer Ecke liegt mein Rucksack. Er ist leer, leer wie mein Blick. Als die Kirchturmglocken läuten und den Krach auf den Straßen übertönen, werde ich mir jedoch eines gewahr: Dieses Mal starb ich gar nicht in meinem Traum. Die Gesichtslosen hatten keinerlei Erfolg. Vielmehr noch; ich schaffte es auf den Zug. Ich lächele, denn vielleicht erwache ich eines Tages tatsächlich aus diesem Albtraum.

René Kanzler

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