Traumhafte Zugfahrt

Der große Uhrenzeiger begibt sich endlich in seine lotrechte Position. Die Türen des Talent-Triebwagens schließen sich. Angenehm dringt das Geräusch des beschleunigenden Zuges in mein Ohr. Draußen prasselt immer noch heftiger Regen auf die umliegenden Gleise, Weichen und Fahrtsignale, die zusehends weniger werden, bis nur zwei Spuren übrigbleiben und eine leuchtende Acht darauf hinweist, wie schnell nun zu fahren ist.

Der Schaffner tritt in mein Abteil – natürlich der ersten Klasse, weil ich es mir wert bin. Er begrüßt mich freundlich, fragt nach meinem Fahrschein, den ich nebst meiner Bahncard zeige; er kontrolliert alles, nickt, wünscht eine gute Fahrt und nun bin ich für den Rest der Fahrt ganz für mich allein.

Die Regentropfen ziehen lange Bahnen, sobald sie die Fensterscheibe berühren. Draußen zeigt sich eine endlos graue Landschaft voller Ackerflächen mit vereinzelten Bäumen, sich füllenden Gräben und matschig gewordenen Feldwegen. Hin und wieder hält der Zug an städtischen oder dörflichen Bahnhöfen an, an denen die Zeit stillzustehen scheint. Auch erste Renovierungsarbeiten und einige Neubauten können nicht darüber hinwegtäuschen, dass überall noch der Geist längst vergangener Dekaden herrscht. Ich liebe es, das alles vom Kabineninneren einen Augenblick lang zu sehen, weiterzufahren und die Gewissheit zu haben, dass ich hier nicht wohnen muss.

Stundenlang könnte ich so reisen. Leider habe ich nur ein Verbundsticket erstanden, das merkwürdigerweise teurer ist als ein ICE-Fahrschein, mit dem ich sonst wie weit fahren dürfte. Wir nehmen das immer als gegeben hin und wundern uns gleichzeitig, dass immer noch so viele mit dem Auto fahren, oder ärgern uns gar über die verstopften Straßen in den Städten und Gemeinden. Ich weiß, dass mein Zielbahnhof nicht mehr weit entfern ist. Darum schließe ich meine Augen, atme tief und genieße die letzten Kilometer.

Plötzlich reiße ich meine Augen auf. Wo bin ich? Ich sitze noch am Bahnsteig. Ich reibe mir die Augen. Ich sehe die elektronische Anzeigetafel. In vier Minuten soll mein Zug kommen. Ich reibe mir die Augen. Der Zug hat 20 Minuten Verspätung. Ich reibe mir die Augen. Ein Schienenersatzverkehr wurde eingerichtet. Ich reibe mir die Augen. Ich sitze in einem Bus. Ich reibe mir die Augen. Ich stehe am Fahrkartenautomaten im Bahnhof. Ich reibe mir die Augen. Ein ICE fährt mich irgendwo hin. Ich reibe mir die Augen und wache auf. Zu Hause gibt mein Smartphone einen Ton von sich. Ich sitze auf der Toilette: kein Zug fährt, kein Bus fährt, alle streiken. Zum Glück sitze ich nun am genau richtigen Ort, um mit der Situation angemessen umzugehen.

René Kanzler

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