Im Metronom

Was? Ja, ja, der ist frei. Moment! Nein, das ist nicht möglich, oder? Im Ernst! Ich kenne Sie doch. Haben wir uns nicht vor einiger Zeit in dieser widerlichen Kaschemme getroffen? Sie wissen schon; die zwei Herrengedecke. Na also! Mit den längeren Haaren und der neuen Kleidung hätte Sie beinahe nicht wiedererkannt. Das nenne ich einen Zufall! Und sehen Sie nur, heute fährt der Zug. Herrlich! Wohin geht es für Sie? Ach, ein weiteres Mal nach Niebüll. Da haben Sie heute wieder eine lange Zugfahrt vor sich. Haben Sie die Stelle bekommen? Tatsächlich? Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer neuen Arbeit. Hier, sehen Sie? Ich drücke Ihnen die Daumen, dass Sie eine passende Wohnung finden werden und beim Umzug alles reibungslos ablaufen wird. Wie lange waren Sie auf der Suche nach einer neuen Stelle? Wahnsinn, neun Monate, obwohl Sie sich deutschlandweit beworben haben. An Fachkräften mangelt es scheinbar gar nicht so sehr. Stimmt, Sie haben Recht, lassen wir das Thema besser. Wichtiger ist, dass Sie erfolgreich waren.

Ich? Irgendwo hin. Ich habe keinen genauen Plan, wo ich gleich oder später aussteigen, umsteigen oder einfach verweilen werde. Das überlasse ich ganz meinem Bauchgefühl. Das Deutschlandticket reize ich damit aber so richtig aus. Ja, ja, gewiss. Dank Ihnen bin ich zum Bahnenthusiasten geworden – trotz aller Ausfälle, Verspätungen und Preiserhöhungen. Lachen Sie nicht, das meine ich ernst. Sie ahnen gar nicht, was unser letztes Aufeinandertreffen und Ihre Ansichten über unsere alltäglichen und dauerhaften Wertungen in mir auslösten. Warten Sie, ich erzähle Ihnen alles gerne im Detail, aber der Schaffner kommt soeben … – oder auch nicht. Da geht er einfach vorbei. Sachen gibt es. Wie auch immer …

Sie haben das letzte Mal, als wir uns sahen und sprachen, viel Gutes und Wichtiges gesagt. Sicherlich war mir an dem Tag unserer Begegnung nicht danach zumute, selbst viele Worte zu verlieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich nicht aufmerksam zuhörte und mir später Gedanken, vielleicht viel zu viele Gedanken über Ihre Ansichten und Ihre Art zu denken machte. Leider führte alles zunächst nur dazu, dass ich unglaublich wütend auf Sie wurde. Schauen Sie nicht so überrascht. Tatsächlich stellte ich mir oft vor, Sie wiederzusehen und Sie mit allerlei farbigen und kräftigen Beleidigungen zu überziehen, dass Sie es nicht noch einmal wagen werden, irgendwen in irgendeiner übelriechenden Kneipe mit Ihren Ausführungen zu überziehen, zu belästigen und in ein Chaos zu stürzen. Oh, ich hatte vielleicht Fantasien. Aber ich nahm fest an, dass ein Wiedersehen unmöglich ist. So musste ich mit meinen Emotionen und Vorstellungen anders umgehen. Ich weiß nicht, ob es Instinkt war oder ein versteckter, mir damals noch nicht bewusster Entschluss, der mit einer neuen Wertung einherging, jedenfalls brach ich, etwa eine Woche nach unserem Gespräch, zu einem Bahnhof auf – um genau zu sein, zu einem Bahnhof hier auf dieser Strecke, die Tag und Nacht klackert, quietscht, dröhnt, summt, poltert, schrammt, hupt und rauscht, weil sie vollkommen überlastet ist.

Glauben Sie aber nicht, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits Züge zu schätzen lernte und aus heiterem Himmel Ihre Passion teilte. Nein, ich war wütend, orientierungslos und saugte allen Pessimismus in mich ein, bis ich mich fast so fühlte, als könnte ich jede Sekunde zerbersten. Dann wäre Ruhe. Hätte er bereits geblüht, hätte ich wohlmöglich in irgendeinem Wald am Fingerhut geleckt. Verstehen Sie, was ich sagen will? Statt in den Wald zog ich mich aber an einen Bahnsteig, irgendwann an irgendeinem Tag, weil ich morgens aufwachte, mich kaum auf den Beinen halten konnte, sich alles um mich herum zu einem unbedeutenden Nichts an Farben, Tönen und Gerüchen verband und auf mir lastete, nein, mich vielmehr erdrückte. In Gedanken wiederholte ich nur: „Raus! Raus! Raus! Verschwinde endlich!“

Ich stellte mich erst dort auf, wo üblicherweise die Fahrgäste warten. Dort zu stehen, auf mein Smartphone im Sog der digitalen Sucht zu glotzen und den Bahnsteigansagen halbherzig zu lauschen, war ich schließlich gewohnt. Und wie viel machen wir nicht ständig aus Gewöhnung, anstatt aus Überlegung oder echtem Gefühl? Schnell verzog ich mich aber zu einem der Bahnsteigenden, setzte mich dort auf den Boden, der von der Sonne erwärmt und mit Zigarettenstummeln von früheren Reisegästen verdreckt worden war. Ich begann zu starren, ganz intuitiv, als hätte ich gewusst, was und wie es zu tun sei. An den ersten Zug, der an mir vorbeidonnerte, erinnere ich mich genau. Es war ein Güterzug – lang, metallisch, schwer, mächtig, keinen Kompromiss duldend und widerlich laut. Ich erschrak und wollte mir bereits die Ohren zuhalten, als ich mir gewahr wurde, dass plötzlich alles um sich herum und in mir ruhiger wurde. Klar, das ist merkwürdig, aber lassen Sie es mich erklären. Der mächtige Klang des Zuges übertönte alles Fremde um mich herum und alles Fremde in mir. Wissen Sie, ich meine diese Stimmen, die einen das ganze Leben lang an allem zweifeln lassen, die nie Zufriedenheit und Wertschätzung ausrücken, die ständig fordern und niemals schweigen, die einen selbst in die Träume verfolgen … Von einem Wimpernschlag auf den anderen war es ruhig in mir, nicht still, es war nur ruhig, denn ich hörte immer noch etwas, etwas lang Vergessenes.

An dem Tag sah ich so viele Züge wie noch nie zuvor in meinem Leben: Regionalbahnen und Intercityzüge, hin und wieder alles als Express, E-Loks, Diesel-Loks, Wasserstofftriebwagen, Güterzüge mit über dreißig Kesselwagen, Schüttgutwagen, Autotranssportwagen, alle Züge mit einem eigenen Klang der Loks und der Waggons. Ich erinnerte mich irgendwann an ihre Bahnleidenschaft. Daher schaute ich mit der Zeit, welche Baureihe an mir vorbeifahren wird, ich verglich die Baureihen miteinander, sah ihre unterschiedlichen Farben und Formen, bis ich aus meiner Trance durch das Aufflackern der Bahnsteigbeleuchtung gerissen wurde. Stunden saß ich dort wie ein Meditierender, ohne nur ein einziges Mal jene Stimmen zu vernehmen. Ich weiß gar nicht, wann ich mich zuletzt derartig energetisiert gefühlt habe, obwohl ich an diesem Tag aufbrach, ohne vorher zu essen oder zu trinken. Ach, jetzt kommt der Schaffner. Die Ehrenrunde musste er wohl drehen, was?

Stimmt, ganz recht, ich habe völlig vergessen zu erwähnen, was ich in mir hörte. Es ist für mich unmöglich, alles aufzuzählen. Gedanken über Gott und die Welt, wie man so schön sagt, obwohl ich weder an Gott noch an die Welt glaube. In mir schrie ich, aus Wut, aus Verzweiflung, aus Unverständnis, aus Ärger über mich selbst. Ich regte mich über hunderte Milliarden bewilligter Gelder auf Kosten der nächsten Generationen auf, sah vor mir ausgetrocknete Seen und Teiche, verbrannte Wälder und Extremwetter, während Kurzbehaarte mit schreibfehlerübersäten Plakaten oder Fackeln auf marode Straßen gehen und irgendetwas von einem Volk quatschen. Ich durchschaute die Lüge des Fachkräftemangels und die Inkompetenz aller Menschen, die im HR-Bereich arbeiten. Wer nichts wird, wird Personaler – das war eines meiner innerlich gebrüllten Mantras an jenem Tag am Bahnsteig. Jeden Verein, egal ob Kunst-, Kultur-, Sozial- oder Sportverein, begann ich zu verachten und wünschte mir, man sollte ihnen allen Fördergelder streichen und sie in etwas Sinnvolles investieren! Ich hörte Gedanken über Ansprüche, über Heuchelei, über Lügen … Und natürlich ging mir unser Gespräch durch den Kopf. Ich begann, während ich in mich hinein horchte, Schritt für Schritt alles als wertlos anzusehen, was es mir erlaubte, den Glauben an erlogene Dinge wie Treue, Respekt, Würde und all das damit verwandte Zeug in ein Feuer des Zornes zu werfen und zu vernichten. Immer wenn irgend so ein vermeintlicher Wert zu lodern begann, zuckte ich nur noch mit den Schultern. Ich zerstörte Werte nicht nur, ich raubte den Dingen die Möglichkeit, wertvoll oder nichtwertvoll sein zu können. Ich degradierte sie zu etwas, das keine Chance auf Wert oder Unwert haben kann. Und nicht nur solche Dinge warf ich ins Feuer. Alle Gedanken und Gespräche von mir oder von und mit anderen endeten auf gleiche Weise. Die Feuersbrunst schlug hoch und höher. Ich antwortete in voller Trance mit der gleichen Schulterbewegung, denn selbst die Hitze und das gelb-rot-orangene Farbenspiel verloren nach und nach alles, um sie mit Wert oder Unwert auszustatten. Ich war stolz auf mich. Genau, Sie verstehen mich. Der Stolz war das einzig Wertvolle, das übrigblieb – aber auch nur für ein kleines Weilchen, denn er verdiente es schließlich auch, zu Asche zu verfallen.

Wissen Sie, es ist schwer, seine Gedanken, Befürchtungen, Sorgen, Wünsche, Pläne – und was nicht alles noch – zu tragen, oftmals auch zu ertragen, sie auf einen bestimmten Platz zu stellen oder in Gruben oder Feuer zu werfen, wenn andere ständig bemüht sind, ein solches allzu menschliches, gesundes und durchaus vitales Treiben zu verhindern. Der tägliche Kampf zwischen dem Willen zum Handeln und dem ständigen Verhindern ist einer der fürchterlichsten, die in unserer heutigen Zeit im Großen wie im Kleinen toben. Irgendwann – und das ist nun bereits acht Jahre her – hörte ich zu sprechen und damit zu denken auf. Ich reagierte nur noch, ich redete daher, sagte aber nie etwas, damit der tägliche Kampf zum Erliegen kommen konnte, der mich längst mürbe gemacht hatte. Selbst in einer Familie mit drei Kindern kann es sehr still, sehr leer und sehr einsam werden. Aber ich ging nicht fort oder suchte anderweitig die Konfrontation, um die Mauern einzureißen, die sich in allen Himmelsrichtungen aufbauten und mir mein Leben so sehr einengten, dass es eines Tages gar kein Leben mehr war, sondern ein Dahinvegetieren – denn ich liebte meine Kinder und meine Frau, ja selbst jetzt, obwohl ich sie bereits seit vier Wochen nicht mehr gesehen habe, liebe ich sie noch. Machen Sie bitte keine großen Augen. Ich bin kein ein Pflichtvergessener, obwohl ich selbst die Pflicht in die Flammen schickte. Meine Frau macht eine Reise mit ihrer besten Freundin – so eine Mischung aus Dienstreise, Homeoffice und Mojito an Strandbars in mir viel zu warmen Ländern. Unser Ältester ist in einer Studentenwohngemeinschaft untergekommen und genießt die zweifelhaften Annehmlichkeiten eines BWL-Studium. Unsere Jüngsten haben sich bei ihren Großeltern einquartiert. Alles geht also seinen geregelten Gang, wenngleich ich alle mit meinem Entschluss überfallen habe, meine Arbeit zu kündigen, den Wanderrucksack mit Notizbüchern, mit jeder Menge Schreibstifte und mit meiner Kameraausrüstung nebst ein paar Kleidungsstücken und einem Deutschlandticket zu schnappen, um einen gefühlt ewig gehegten Wunsch zu erfüllen: einfach abzuhauen! Dazu muss ich aber ehrlicherweise noch hinzufügen: Erst wollte ich mitten in der Nacht verschwinden. Ich plante, mit meinen wenigen Sachen auf einen kurz im Güterbahnhof haltenden Kesselzug zu springen und dann zu sehen, wohin er mich bringt. Den Traum habe ich seit meiner Kindheit. Ich fragte mich, wie eine solche Nebel- und Nachtaktion wohl verlaufen würde. Das wäre aber zu egoistisch gewesen, vielleicht auch zu riskant, und ich konnte und wollte nicht einfach nachts von meiner Familie davoneilen. Sie müssen in Hamburg umsteigen, nicht wahr? Dann geht es nach Altona und dann weiter Richtung Niebüll. Gut, dann möchte ich Sie nicht aufhalten. Ich werde in Hamburg auch umsteigen. Vielleicht in irgendeine S-Bahn. Nein, das wäre zu viel verlangt. Sie haben doch Verpflichtungen in Niebüll. Erst morgen? Was halten Sie dann von folgendem Kompromiss: Wir setzen uns noch ein Weilchen am Hauptbahnhof zusammen. Ich komme mit meinen Ausführungen zum Schluss und dann heißt es für uns weiterzufahren, in Ordnung? Danke, dass Sie mir zuhören und wirkliches Interesse zeigen. Das ist selten und daher, so möchte ich sagen, wertvoll.

Hier in diesem ganzen Trubel hört man seine eigenen Worte fast gar nicht, oder? Der Hamburger Hauptbahnhof hat die meisten Fahrgäste pro Tag, ist aber viel zu eng für diese Massen. So können Sie sich aber ein Bild davon machen, wie es in mir lange Zeit zuging: Stimmen über Stimmen, Trubel, Lärm, Verwirrung, kein klarerer Gedanke, ein fürchterliches Durcheinander. Sie wollen im Ernst wieder ein Herrengedeck? Um ehrlich zu sein, mir ist heute nicht danach. Vielleicht nehme ich einen Apfelsaft. Nein, ich scherze nicht. In Ordnung, in Ordnung, wenn Sie heute die Runde schmeißen, dann gibt es von mir keine Widerrede. Gestatten Sie mir aber bitte, mit meinen Erzählungen fortzufahren. Je mehr ich an Bahnsteigen saß und je mehr ich mit den Zügen quer durch das Land fuhr, wurden meinen Gedanken konzentrierter, reflektierter, aber deswegen noch lange nicht frei von Düsternis. Nein, ich hüllte mich ein. Nachdem ich so viele Jahre ein Leben verbrachte, das sich auf Durchhalten und Hoffen stützte, begann ich alles noch mehr anzuzweifeln; täglich legte ich ein Feuer in mir. So fragte ich mich: Hoffnung, was ist das schon? Es nur der Wunsch, dass sich etwas zum Guten und Vorteilhaften wendet, ohne etwas dafür tun zu müssen. Jahrelang tat ich nichts, aber ich hoffte. Nichts änderte sich. Jeder Tag glich dem anderen. Sie sahen es vor einiger Zeit, wohin mich das führte. Nachdem ich meine Hoffnung, ja die Hoffnung an sich kritisierte, hörte ich, wie etwas gegen Gitterstäbe zu schlagen schien. Ich begriff nicht, was es damit auf sich hatte, doch in mir regte sich das flehende Verlangen, dieses Geräusch nicht mehr zu hören. Die Gitterstäbe wollte ich vernichten, damit der helle, mich im Mark erschütternde Schlagklang endlich ein Ende finden könnte. Je mehr ich an den Bahnsteigen saß und in Zügen meine Tage und Nächte verbrachte, desto leiser wurde der Klang. Aber er stoppte nicht. Selbst heute vernahm ich ihn, wenngleich sehr undeutlich. Noch immer ist es mir ein Rätsel, woher er stammt, wer oder was ihn verursacht und warum ich ihn höre.

Na, da ist es ja schon. Prost! Das Kratzen in der Kehle ist doch herrlich, oder? Es ist noch heftiger als beim letzten Korn, den wir zusammen getrunken haben. Sie mögen das Zeug immer noch nicht? Das ist gut so! Das zeigt, dass Sie zwischen heimlicher oder offener Sucht und einem mehr als fragwürdigen deutschen Ritual unterscheiden können. Dazu war ich einige Jahre nicht fähig. Jetzt, je besser ich mich fühle, kann ich die Dinge wieder besser voneinander unterscheiden – nicht für mich, aber allgemein. Wissen Sie, man kann über Werte reflektieren, ohne sie selbst zu vertreten. So kann ich leicht annehmen, dass ein Korn und ein Bier einen Wert für Süchtige haben können – oder für diejenigen, die gerne Ritualen nachgehen. Ob ich heute das Herrengedeck schätze oder nicht, kann ich nicht bestimmen. Lassen Sie sich auch nicht von meinem verzogenen Gesicht nach dem Korn und vom anschließenden Lächeln täuschen. Das sind nur Reaktionen, die bei mir aus Gewohnheit entstehen. Dahinter steckt nicht mehr. Jetzt erkennen Sie sicherlich, welche Gedanken ich derzeitig habe. Angefangen bei einer radikalen Skepsis bin ich nun an einem sehr kritischen Punkt angelangt. Es gibt nichts Wertvolles für mich. Ja, Sie verstehen mich. Das kann mehr als gefährlich sein. Von hier aus sind nun alle Richtungen und Wege offen. Ich kann bald mein Glück finden, es ewig suchen oder mich sofort von hier oben auf die Bahngleise stürzen. Es macht keinen Unterschied. Was meinen Sie? Wieso? Wann habe ich denn heute etwas bewertet? Weil ich Ihnen gedankt habe? Da ist etwas dran; da ist etwas dran. Darauf ein Bier, nicht wahr?

Oh, entschuldigen Sie. Ich war kurz in Gedanken und habe auf die gerade angefahrene Baureihe 101 geschaut. Wie es scheint, habe ich heute so etwas wie einen Wert gesetzt – und zwar genau in dem Moment, als ich Ihnen dankte. Sehen Sie nur, sehen Sie mich genau an. Letztes Mal waren Sie davon fasziniert, dass ich Philosoph bin und promoviert habe. Jetzt wissen Sie, wie es jenseits aller Romantik und Ehrerbietung um uns bestellt ist. Wir glauben alles besser zu wissen und jeden einen Rat für jegliche Situation geben zu können. In Artikel phrasieren wir über dieses und jenes. Man lädt uns in Podcasts ein, um stundenlang nichts Brauchbares von uns zu geben. Wir lächeln auf Konferenzen und halten Vorträge – natürlich eloquent und mit allerlei lateinischen Phrasen, weil alles Leere ein Schmuckbeiwerk braucht. Dann schreiben wir sogar noch Bücher oder geben Seminare, um so die nächsten Generationen gleich mit zu verderben. Und dennoch: Der Welt ist das alles egal. Wir Philosophen sind nur irgendwer irgendwo, die irgendwas tun oder auch nicht. Wen kümmert es? Wichtig ist für uns allein, dass wir unser Dasein, das wir zu wenig hinterfragen, als etwas Wertvolles erscheinen lassen und uns für diesen Schein rechtfertigen – aus Angst, mit dem Verschwinden des Scheins nicht umgehen zu können. Wir selbst sind uns bei allem die schlechtesten Ratgeber. Nur in seltenen Momenten schaffen es andere Menschen, uns aus unseren Höhen vertreiben, auf dass wir den harten Boden der Realität wieder zu spüren lernen. Sie sind darin sehr geschickt.

Natürlich, wenn Ihr Zug in wenigen Minuten einfährt, lassen Sie uns gehen. Ich nehme bestimmt auch gleich eine Verbindung irgendwo hin. Meine Reise geht noch weiter. Vielleicht sehen wir uns noch ein drittes Mal, was meinen Sie? Bestimmt! Bestimmt! Danke für alles – und danke für das heutige Herrengedeck. Gerne, sagen Sie, was Sie sagen wollen. Sie wollen mir einen Rat geben? Immerzu, ich bin ganz Ohr. Das ist eine Frage, aber kein Rat. Hey, jetzt rennen Sie mir nicht weg, hey! Was soll diese Frage? Warum soll ich mich regelmäßig fragen: Soll das schon alles sein? Hey, so warten Sie doch!

René Kanzler

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