Der Typ und seine Perle

Ach Mann! Jetzt zieh’ nicht so eine Fresse! Dir tu’ ich schon nichts. Warum auch? Ich darf hier aber genauso sitzen wie jeder andere. Egal, ob ich mit irgendeinem dieser Züge hier fahre oder nicht. Und ich darf mir hier auch mein Pilz reinkippen. Egal, ob es dir Schnösel passt oder nicht. Ist ein freies Land, verstanden? Na und? Brauchst ja nicht gleich angeekelt zu glotzen. Als ob du noch nie ein Bier getrunken und beschissen dabei ausgehen hättest. So eine Scheinheiligkeit wieder. Wirklich! Einmal so tun, als sei ich das Widerlichste, was du jemals gesehen hast, und samstags dich nach allen Regeln der Kunst volllöten. Deine betrunkene Scheißfresse würde ich am Samstagabend zu gerne sehen. Ja, dann verpiss dich einfach, du Mülltonne. Und nicht den Post auf Instagram vergessen. Muss selbstverständlich jeder wissen, was du heute erlebt hast und wie toll du bist! Hashtag: #verziehdich

Meine Fresse, Dreckstyp! Nichts vom Leben gesehen, aber schön das Maul aufreißen. Deutschland kannst du echt vergessen! Huch? Da sitzt schon jemand Neues. Entschuldigen Sie bitte. Wegen des Gebrülls und so. Tut mir leid. Ehrlich! Ich sehe vielleicht nicht so aus, aber das mache ich sonst nicht. Bei solchen Typen kann ich mich leider manchmal nicht mehr halten. Ja, ja, ja! Mag gut sein, dass um 8 Uhr ein Bier am Bahnsteig nicht die beste Idee ist. Und meine Klamotten … Na ja, reden wir nicht drüber. Ich freue mich aber, dass Sie noch normal im Kopf sind. Sie sprechen ruhig mit mir. Und ihr Alltagsfrust bleibt bei Ihnen. Nein, nein, seien Sie nicht so bescheiden. Das muss gelobt werden. Sie glauben gar nicht, wie viele es von diesen Kackbratzen in Deutschland gibt. Und so viele von denen trifft man auf Bahnsteigen an. Es ist schrecklich. Wollen Sie auch einen Schluck? Nein, natürlich nicht, das war nur ein Scherz. Aber ziemlich höflich bin ich dennoch, nicht wahr?

Wo müssen Sie hin? Aber der RE7 kommt erst in einer Stunde. Zu früh dran? Das kann passieren. Besser als zu spät, nicht wahr? So viele Möglichkeiten gehen uns täglich verloren, weil wir zu spät dran sind. Entschuldigen Sie, ich rede zu viel. Aber an den Bahnsteigen und in den Zügen in diesem Land erlebt man eine Menge. Da wird jeder irgendwann redselig. Die beste Geschichte? Fragen Sie mich ernsthaft danach? Sie gefallen mir! Sie stellen die richtigen Fragen zur richtigen Zeit. Mmh, die beste Geschichte. Ja, die gibt es. Wollen Sie sie wirklich hören? Okay, ich genehmige mir aber erst noch einen Schluck. Die Geschichte habe ich im Übrigen gehört. Hat mir ein anderer erzählt. Ob sie wahr ist, weiß ich nicht. Ich war ja nicht dabei. Aber es ist eine gute. Die bringt die Hirnzellen mal so richtig auf Trab.

Nun, da soll es einen Typen gegeben haben. Der hatte an sich alles. Frau, Kinder, guten Job. Aber der hatte sich nicht mehr wohlgefühlt. Und er soff. Heimlich, aber er soff. Ging für ihn nicht mehr anders. Irgendwann ist er dann einfach weg. Nicht einfach so. Er sprach das mit seiner Frau ab. Er brauchte eben eine Auszeit. Dem war alles zu viel. Und sie einigten sich darauf, dass er freien Auslauf bekam. Der Typ streifte dann mit einem Deutschlandticket quer durchs Land. Er machte Fotos und schrieb, glaube eine Art Reisetagebuch. Keine Ahnung, davon verstehe ich nichts. Spielt aber auch keine Rolle. Jedenfalls … Irgendwann kam er zurück nach Hause. Die Kinder waren nicht da. Aber seine Frau. Und – jetzt kommt es – sein bis dahin bester Freund. Sie knutschten und waren kurz davor, richtig loszulegen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Dazu sagte er nichts. Er packte nur seine Sachen neu. Nach einer halben Stunde war er wieder verschwunden. Wortlos. Aber wieder mit seinem Rucksack, seinem Kamera- und Schreibzeug. Der Typ setzte ich in den nächstbesten Zug. Dieses Mal wusste er genau, wohin mit sich. Hoch in den Norden. Irgendwohin ans Meer.

Gucken Sie einmal da drüben. Das ist Günni. Der hat bestimmt schon drei Bier in der Birne. Warten Sie kurz. Den muss ich grüßen. Sonst ist er wieder eingeschnappt. Günni, alte Sau! RE2 ist noch nicht einmal da und du hast schon dein Drittes im Kopf, was? So ist es richtig! Schön weitermachen. Aber nicht wieder die Pendler anpöbeln. Ja, so sieht es aus! Gönn‘ dir was! Klar, machen wir! Wir sehen uns! Das ist so ein richtiger Suffkopf. Doch selbst Günni ist kein Schlechter. Der hat sein Herz am richtigen Fleck. Der ist auch nicht grundlos zur Flasche gekommen. War früher ein hohes Tier in irgend so einer Firma. Dann sah er aber keinen Sinn mehr in seiner Arbeit und in seinem Leben. Jetzt ist er hier und schreit gerne einmal die Passanten an. So, wo war ich? Ah ja, danke. Der Typ reiste dann irgendwo in den Norden hoch. Irgendein Kaff, das man nur noch mit einer RB erreichen kann. Und dort stieg er aus dem Zug aus. Er ging wie ferngesteuert Richtung Meer. Dort fand er eine Bank und setzte sich. Dann geschah nichts. Er saß dort einfach. Er schwieg und blickte aufs Meer. Nach ein paar Stunden kam aber jemand vorbei. Eine junge Frau, glaube ich, war es. Sie fragte, ob sie sich setzen könne. Er schwieg natürlich und schaute sie nicht an. Dann fing sie an zu erzählen. Viele kämen hier her, weil sie etwas Schreckliches erlebten. Sie kenne die Blicke der Leute. Sie seien voller Zorn, Verzweiflung und Ideen, sich bald zu ertränken. Aber sie sehe auch etwas anderes im Blick des Typen. Hoffnung, meinte sie. Da wurde der Typ auf einmal hellhörig. Er drehte sich zu ihr um und sah sie das erste Mal. Eine Perle muss das gewesen sein. Einfach eine Perle.

Was los ist? Nichts. Ich versuche nur, den Rest der Geschichte zusammenzubekommen. Immer mit der Ruhe. Ich bin auch nicht mehr der Jüngste. Die beiden sollen noch stundenlang miteinander geredet haben. Über alles, wissen Sie. Gott und die Welt und so. Inmitten des Gesprächs fragte sie den Typen, was er denn am liebsten machen würde. Also in dem Sinne, dass er sich um Arbeit und so ein Kram keine Sorgen machen müsste. Komische Frage, ich weiß, aber die Perle wollte das eben wissen. Und das war wichtig. Sie werden es gleich verstehen. Der Typ überlegte und sagte, er wolle ein kleines Haus mit einem Garten haben. In diesem Garten würde er täglich sitzen und Philosophie und anderes Zeug studieren. Und wenn ihm seine Birne zu voll würde, dann ginge er eben in seinen Garten und stutzte die Rose oder sammelte Kartoffelkäfer. Die Perle sagte dann nichts mehr. Sie lächelte nur und nahm einfach mir nichts dir nichts seine Hand. Und da begriff der Typ erst einmal richtig, wer neben ihm saß und mit leuchtenden Augen und dem entzückendsten Lächeln dieser sonst so ästhetisch verwahrlosten Welt ihn anblickte, auf dass das Gespräch wie zwischen zwei sich gefundenen Seelen wortlos weitergeführt wurde, während das sonst unaufhaltsame Rad des Werdens und Vergehens stillstand. Sie saßen da, bis das letzte Sonnenlicht die Meereswolken bemalte und es an der Zeit war zu gehen. Bei ihr zu Hause führten sie ihr Gespräch fort. Sie waren glücklich. Etwas, dass sie beide vorher nicht kannten …

Warten Sie kurz. Meine Flasche ist alle. Ich ziehe mir nur schnell eine Dose an dem Automaten hier. Dann kann ich die Geschichte zu Ende erzählen. Na, komm’ schon, du Drecksautomat, geht das nicht schneller? Sehr gut. Das Reden macht meine Lippen trocken. Da brauche ich einfach einen Schluck. Puh, was gibt es noch zu berichten? Ach ja. Der Typ meinte am nächsten Tag, dass er zu ihr ziehen wolle. Überlegen Sie sich das einmal. Die kannten sich gar nicht. Die haben nur miteinander gesprochen – wenn man das überhaupt Sprechen nennen konnte. Sonst nichts. Und der Typ wollte gleich zu ihr ziehen. Verrückt. Oder eher völlig bekloppt. Lachen Sie nicht so. Das ist doch wahr! Er fuhr dann zu sich nach Hause. Dort war zum Glück niemand da. Er suchte sich alles Nötige zusammen. Sie wissen schon, Papiere, ein paar Klamotten, was man so braucht. Als er wieder hoch in den Norden fuhr, suchte er bereits nach einer Wohnung und nach Arbeit. Zufälligerweise fand er beides. Er wollte seiner Perle davon erzählen. Der Typ muss unwahrscheinlich hippelig gewesen sein. Im Zug starrten ihn alle an. Und als er endlich den Bahnsteig betrat, haute er sich erst einmal gründlich auf den Boden. Der war durch, sage ich Ihnen. Aber ist auch klar. Wer nie glücklich war, kennt das Gefühl gar nicht. Wohin mit der plötzlichen Energie? Da behält niemand den Fokus. Als er wieder im Kaff ankam, rannte er geradezu zu der Wohnung seiner Perle. Und jetzt halten Sie sich fest. Jetzt wird es erst richtig krass! Ihr Klingelschild war weg. Einfach weg. Da war plötzlich ein anderer Name. Er war verwirrt. Auch an den Nebengebäuden war ihr Name nicht zu lesen. Kopflos klingelte er dort, wo ihr Namensschild hätte stehen müssen. Ein älterer Mann öffnete die Tür. Der war mindestes ebenso verwirrt wie der Typ. Er erklärte ihm, dass hier nie eine Frau wohnte und der Mann vor über dreißig Jahren eingezogen sei. Sie war weg. Niemand im Kaff hatte sie je gesehen. Niemand erinnerte sich an sie. Dem Typen wurde schwindelig. Er hat es einfach nicht gecheckt, was da los war. Irgendwann setzte er sich wieder auf die Bank am Meer. Er schwieg und hoffte, dass sie zurückkäme. Sie kam nicht. Er blieb sitzen. Fast anderthalb Tage. Dann stöhnte er auf, kaufte sich zu Essen und zu Trinken und stieg in den nächsten Zug ein. Wo der Typ hinfuhr, weiß heute keine Sau. Der kann überall und nirgendwo sein. Den hat keiner mehr gesehen. Es bleibt nur diese Geschichte. Übel, oder? Ob der nur Hallus hatte?

Hey, was lachen Sie denn schon wieder? Denken Sie, die Geschichte habe ich mir gerade ausgedacht? Na, warum lachen Sie dann so? Oh, da kommt Ihr RE7. Na ja, wenigstens habe ich Sie ein bisschen unterhalten können. Machen Sie es gut und haben Sie einen schönen Tag. Und wenn Sie wieder einmal eine lustige Geschichte brauchen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden … Wie der sich gekringelt hat. Merkwürdig. Vielleicht sollte ich solche Geschichten aufschreiben. Vielleicht sollte ich Autor werden! Ja, das wäre es noch. Ich und Autor. Nee, lieber noch eine schöne Hopfenkaltschale für den Nachhauseweg. Da weiß ich wenigstens, woran ich bin …

René Kanzler

4 Gedanken zu “Der Typ und seine Perle

  1. moin, rené!
    vielleicht solltest du mal bei der deutschen bahn anfragen. mit deinen reisegeschichten.
    die warten vielleicht schon d’rauf…
    einstweilen viele grüße vom hauptbahnhof…!
    dein resilienztheater

    1. Hey Resilienztheater (herrlicher Name übrigens), danke für’s Lesen. Ja, ich dachte wirklich schon einmal daran, Texte für das Bahn-Magazin einzusenden, aber wie man da seit Jahren lesen kann, mag man da eher einfachere Sachen. Aber es geht hier fleißig mit der Bahn weiter – auch um zu zeigen, dass man sie nicht immer rundmachen muss. Beste Grüße vom Provinzbahnhof zum Hauptbahnhof! 🙂

  2. moin rené,
    danke für das feedback zum theaternamen…!
    aber: das ist eine vermutung (von wegen „einfachere sachen“) – oder…?
    hattest du denn schon konkret bei der bahn angefragt…?
    mehr als auf’s abstellgleis könn(t)en sie dich ja nicht stellen…;-)
    grüße zurück in die provinzbahnhöfe aller länder…!
    dein mindtrain

  3. Hey René,
    ich erlaube mir einen Hinweis:
    Die Datums-/Zeitangabe in der Kopfzeile der Kommentare, insbesondere die „nachgestellte Angabe „am Uhr“ ist aus meiner Sicht etwas holprig. Vielleicht fragst du mal deinen Anbieter, wie er das verbessern könnte…?
    Nun muss ich weiter Erbsenzählen…
    Gute Tage für dich!
    Dein Resilienztheater.

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