Der namenlose Ladenbesitzer

Inmitten einer weißen Wüste gab es einst ein Dorf, das in den besten Jahren an die 200 Einwohner aufwies. Die einzige Möglichkeit, zum Dorf zu gelangen oder das Dorf zu verlassen, bot der Zug. Er hielt zweimal die Woche quietschend an, ehe er nach kurzem Aufenthalt rußend davonschrammte. Die Führung sagte zu, die Gleise zu erneuern, einen neuen Bahnsteig zu errichten und sogar für mehr Verbindungen und preisweitere Fahrscheine zu sorgen. Das alles blieb ein Versprechen und so alterten Zug, Gleise und Bahnsteig, während die Fahrscheinpreise regelmäßig stiegen.

Mitten im Dorf gab es einen Laden, in dem man alles finden konnte, was man in der Eiswüste so brauchte: vor allem Zwiebeln, Speck und Wodka. Der Besitzer des Ladens war allen Dorfbewohnern bekannt, obwohl sich nie jemand an seinen Namen erinnerte. Die einen wollten seinen Namen, so schnell es ihnen möglich war, vergessen, die anderen konnten ihn nicht im Gedächtnis behalten, weil sie aus einem Überschwang aus Freude und Respekt ohnehin nie den Namen des Ladenbesitzers aussprachen, sondern ihn als Genossen, manche sogar als Freund bezeichneten.

Der Ladenbesitzer war gegenüber der Führung treu, ja treuer als die Mitglieder der Führung selbst. Er verkaufte nie etwas unter dem Ladentisch, machte seine Lebensmittelbestellungen immer korrekt, orderte nie zu viel und verkaufte zu angemessenen Preisen. Kam die Führung in sein Geschäft, hielt er stets ein bares Geschenk für sie bereit, obwohl er sich nie etwas zu Schulden kommen ließ. Wollte die Führung ein Fest für sich im Dorf feiern, erledigte der Ladenbesitzer alle Lebensmittellieferungen, half auch bei anderen Vorbereitungen und wusste immer nur ein gutes Wort über die Führung zu verlieren.

So kam es, dass die einen Dorfbewohner ihn für seine Linientreue achteten, zumal sie meist selbst ab einem bestimmten Punkt die geltenden Regeln übertraten, um beispielsweise einen Zugfahrschein zu ergattern oder an dringend benötigte Materialien für eine Reparatur des eigenen Hauses zu gelangen, denn auch wenn die Führung von baldigem Versorgungsnachschub sprach, traf er nie ein, sodass man erfinderisch werden musste, um das Nötigste zu erhalten. Die anderen Dorfbewohner hassten den Ladenbesitzer und sahen ihn nur als einen Verräter am eigenen Volk an, das beständig unter dem Joch der Führung zu leiden habe. Sie verachteten seine Linientreue und kauften bei ihm nur deswegen ein, weil er das einzige Geschäft im Dorf führte.

Selten verließ der Ladenbesitzer das Dorf. Geschah es jedoch, dann nur nach Aufforderung der Führung, die ihm jährlich einmal einen Verdienstorden für „seine wertvollen und immer auf den Fortschritt bedachten Taten“, so hieß es stets, in der weit entfernten Großstadt verlieh. Unter wertvollen Taten verstand die Führung nicht nur den Verkauf von Waren oder das Organisieren von Festen, sondern auch das Ohr ein wenig zu spitzen, wenn sich Kunden im Laden oder anderswo im Dorf unterhielten, oder das Auge zu schärfen, wenn der ein oder andere Dorfbewohner plötzlich hinter einem Haus verschwand. Wöchentlich holte sich die Führung Berichte beim Ladenbesitzer über vermeintliche Sonderbarkeiten im Dorf ab. Er notierte alles haargenau, was ihm ungewöhnlich erschien, und überreichte seine Berichte stets mit einer „kleinen Aufmerksamkeit“, so wie er es nannte. Hin und wieder verschwand ein Dorfbewohner aus unerklärlichen Ursachen, meist immer ein, zwei Tage, nachdem der Ladenbesitzer seinen neusten Bericht abgegeben hatte.

Eines Tages kam es zu Unruhen im ganzen Land, weil ein schrecklicher Skandal der Führung an die Öffentlichkeit gelangte. Um die Bevölkerung zu beruhigen, mussten Köpfe rollen. So entschloss sich die Führung, den Ladenbesitzer aufzusuchen. Sie erzählte ihm alles bis ins kleinste Detail, als wäre der Ladenbesitzer selbst ein hoher Funktionär innerhalb der Führung. Am Ende bat die Führung um Verständnis dafür, dass man den Ladenbesitzer nun für den Rest seines Lebens in ein Arbeitslager schaffen müsste, schließlich müssten Köpfe rollen. Der Ladenbesitzer verstand das alles und noch am selben Tag verließ er in Begleitung der Führung das Dorf. Die einen, die ihn einst hassten, jubilierten, weil sie plötzlich einen Gleichgesinnten im Ladenbesitzer erkannten, die anderen, die ihn einst liebten, weinten aus blanker Enttäuschung, als er in den Zug stieg. Im ganzen Land wurde bekannt gemacht, dass der Ladenbesitzer Ursache des Skandals innerhalb der Führung war und dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Dem Volk war das genehm und es beruhigte sich wieder.

Seine letzten Jahre verbrachte der Ladenbesitzer damit, Erze unter den unwürdigsten Bedingungen abzubauen. Sein Körper hielt die Strapazen nicht aus, sodass er bald auf dem Sterbebett lag. Kurz vor seinem Tod, trat die Führung heran und versicherte ihm, dass er ein glückliches Leben hatte und seine Dienste für das ganze Volk ewig in Erinnerung bleiben werden. Der Ladenbesitzer nickte und bedankte sich treu, ehe verstarb.

René Kanzler

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