Das Schlagwort

Vor gut dreißig Jahren kam ein Wort auf die Welt. Wäre das unter anderen Umständen und in einer anderen Gegend geschehen, hätte aus dem Wort vielleicht ein ansehnliches Kompositum oder sogar ein vielgenutzter Fachausdruck werden können. Jedes Wort hat dazu die Chance.

Leider war das Wort nicht geplant. Das bekam es während seiner gesamten Jugend zu spüren. Sein Umfeld war einem ausgewogenen Sprachgebaut abgeneigt. Daher intonierte man das Wort undeutlich oder im fürchterlichsten Dialekt der Republik, schrieb es mit allen erdenklichen Rechtschreibfehlern und setzte es in jedem Satz falsch ein. Niemand kannte seine wahre Bedeutung. So ist es kein Wunder, dass das Wort nie seine vollen Möglichkeiten kennenlernte und sein Potenzial ausschöpfen konnte. Auch war es lange Zeit ein Außenseiter, da ihn die Nomen, Verben, Nebensatzeinleitungen und die Stammwörter mieden. Die einzigen Freunde, die es bald haben sollte, waren gewaltbereite Kraftausdrücke, die sich ausschließlich mit Ausrufezeichen schmückten. Ihren Hass, ja ihre gesamte Weltsicht übertrugen sie auf das Wort, aus dem letztendlich ein Schlagwort wurde.

Heute findet man das Schlagwort in TikTok-Videos, auf Facebookseiten und Kommentarspalten, die sich gegen Toleranz, Solidarität, Wahrheit, Bildung, Empathie und so viele andere Dinge aussprechen. Manchmal taucht es ebenso in Büchern auf, manchmal in Zeitungen, neuerdings auch auf Demonstrationen, denn unter lautem Traktorenkrach fühlt es sich am wohlsten.

Das Schlagwort kommt heute viel herum, es hat in gewisser Weise eine Karriere gemacht, doch nachts, wenn es allein zu Hause im Bett liegt und ihn der Schmerz überkommt, ungewollt und nur auf dieser Welt zu sein, um anderen wiederum Schmerzen zu bereiten, weiß es, dass ausschließlich die Wiederholung immergleicher Lügen und starke Betäubungsmittel helfen, um überhaupt noch Schlaf finden zu können.

René Kanzler

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